Zerstörte Festungsstadt Küstrin: Das „Pompeji an der Oder“

In Deutschland sind verlassene Städte selten. Ruinen haben wir zuhauf, aber ganze Städte wurden, auch bei größten Zerstörungen, in der Regel wieder neu aufgebaut. Küstrin liegt nicht direkt in Deutschland, sondern auf der Ostseite der Oder, also gerade so in Polen. Die Stadt wurde während des 2. Weltkriegs nahezu vollständig zerstört und nach dem Krieg nicht neu besiedelt. Letzten Mittwoch schauten wir uns das Trümmerfeld der „Altstadt“ von Küstrin an.

Küstrin als letzte Bastion Anfang 1945

Als Nazi-Deutschland ab 1944 einen Zwei-Fronten-Krieg führte und sich die umkämpften Fronten den Vorkriegsgrenzen des Deutschen Reichs näherten, flog Hitler sein Traum vom „Tausendjährigen Deutschen Reich“ krachend um die Ohren. Aber natürlich durfte Deutschland den Krieg nicht verlieren: Kein Rückzug, keinen Meter Land hergeben, schon gar nicht im Osten im Kampf gegen die verhasste Sowjetunion.

Doch weder die Amerikaner oder Briten, noch die Russen ließen sich aufhalten. Unaufhaltbar verkleinerte sich das Deutsche Reich mit dem Vorrücken der Alliierten. Im Winter 1944/45 befahl Hitler, verschiedene deutsche Städte im Osten zur Festung auszubauen. Dazu gehörten etwa Königsberg, Breslau und auch Küstrin. Städte mit mittelalterlicher Tradition und bürgerlichem alten Stadtkern igelten sich ein. Küstrin hatte allerdings bereits seit dem 16. Jahrhundert Erfahrung als Festung: Die Stadt gehörte bis zum 1. Weltkrieg zu den am stärksten befestigten Städten Deutschlands.

» Fotos der Stadt Küstrin zu Beginn des 20. Jahrhunderts

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Nun mussten die Zivilisten die Festung Küstrin verlassen, dafür verschanzten sich Verbände der Wehrmacht hinter den Mauern. Küstrin sollte uneinnehmbar werden und als letzte Bastion vor Berlin den Vormarsch der Russen auf Berlin stoppen oder zumindest verlangsamen. Von Küstrin aus führte die Reichsstraße 1 (heute Bundesstraße 1) direkt zum rund 80 km entfernten Berlin. Nach heftigen Gefechten seit Ende Januar 1945 fiel die Stadt schließlich Ende März, nachdem die Sowjets nördlich und südlich von Küstrin schon Brückenköpfe über die Oder geschlagen hatten.

Festung Küstrin ca. 1921
Küstrin im Jahre 1921

Ein schwerer Schlag für den „GröFaZ“ Hitler – und zugleich Begräbnis für die Altstadt von Küstrin. Hier wurde etwa Leutnant von Katte, Vertrauter von Friedrich II., „dem Großen“, im 18. Jahrhundert enthauptet, weil er Friedrich bei dessen Auflehnung gegen seinen Vater geholfen hatte. Wegen des begrenzten Raums in der Garnisonsstadt entwickelte sich außerhalb der Mauern im 19. Jahrhundert die Küstriner Neustadt.

Kein Wiederaufbau, keine Konservierung

Beide, sowohl die Altstadt als auch die Neustadt von Küstrin, wurden während der Kämpfe im Frühjahr 1945 zu großen Teilen zerstört, außer verbrannten Fassaden stand kein Stein mehr auf dem anderen.

Während die Neustadt aber abgeräumt und neu überbaut wurde – die Stadt gehört heute zu Polen und heißt Kostrzyn – blieb die Altstadt ein Trümmerfeld. Sie wurde nicht überbaut und bis heute auch nicht konserviert. Allerdings wurden die größeren Ruinen eingerissen und die Ziegelsteine für den Wiederaufbau Warschaus verwendet. Dann überwucherten bis in die 1990er Jahre Büsche und Gräser die übrig gebliebenen Schutthaufen.

Nach dem Ende des Kalten Krieges und der Öffnung der Grenzen besann man sich auf die frühere, unter den Trümmern begrabene Stadt. Die Stadtverwaltung ließ die alten Straßenzüge Küstrins freiräumen und restaurierte das Berliner Tor im Westen und das Kietzer Tor im Osten sowie Teile der Bastion. Sie brachte außerdem Schilder mit den früheren Straßennamen sowie weitere Infotafeln an und richtete ein kleines Museum ein.

Trotzdem: Systematische Ausgrabungen gab es bis jetzt nicht. Unter dem Schutt der zerschossenen Gebäude liegen noch immer Alltagsgegenstände der letzten Bewohner Küstrins, die die Stadt im Januar 1945 schnell verlassen mussten.

Gespenstische Stimmung in Küstrin

Als Besucher laufen wir über Straßenpflaster des frühen 20. Jahrhunderts, gesäumt von Bürgersteigen. Nach oben führende Treppen und Kellerfenster zeugen davon, dass hier einmal Häuser standen. Hinter den Mauerresten finden wir belegte Fliesenböden. Es herrscht eine unheimliche Stimmung. Es könnte genauso gut ein grüner Park sein – ist es aber nicht. Küstrin wurde gewaltsam zerstört, die Bewohner während oder nach dem Krieg vertrieben. Soldaten starben, Besitztümer verbrannten.

Man begegnet kaum Menschen und es ist sehr still in Küstrin. Man versucht, sich die Stadt in ihrem Zustand von – sagen wir 1932 – vorzustellen, mit Straßenbahnen, ersten Automobilen und städtischer Betriebsamkeit, im Hintergrund das Glockenläuten der Marienkirche. Die Kirche allerdings ist genauso zerstört wie alles andere. Ein Haufen Ziegelstein-Mauerreste zeigen an, wo sie einst stand und im hinteren Bereich sieht man den Eingang in die unterirdische Krypta. Die Polen haben vor ein paar Jahren ein großes Kreuz an der Stelle des früheren Altars errichtet.

Genau wie Pompeji wurde die Stadt durch eine Katastrophe vernichtet – und genau wie in Pompeji sind die Zeugnisse des früheren Alltags noch greifbar. Optisch erinnert Küstrin mit seinen Mauerresten und Schutthaufen zwar mehr an das römische Ostia, doch Ostia wurde im Laufe der Zeit langsam von ihren Bewohnern verlassen. Es war ein gewollter, kontrollierter Abzug, und danach streiften Generationen von Menschen durch die langsam verfallenden Mauern und nahmen alles mit, was irgendwie noch von Wert war. In Küstrin allerdings mussten die Menschen die meisten Besitztümer in der Stadt zurücklassen, und dort wurden sie zerstört, verschüttet und vergessen.

Alltagsgegenstände zeugen vom Krieg

Ob es in Küstrin noch etwas von Wert gibt? Wahrscheinlich schon – zumindest von ideellem Wert. Gelagert in Kellern, begraben von einstürzenden Gebäuden, deren Reste nicht systematisch durchsucht wurden. Die wahren Gegenstände von Wert sind etwa solche, die wir an einer hastigen, unprofessionellen kleinen Grabung in einem der Häuser gefunden haben. Hier hat sich jemand durch Wurzeln und Schutt gegraben und einen kleinen Hohlraum geschaffen. Dabei sind viele Kleinigkeiten aufgetaucht – eigentlich wertlos, aber sie helfen dabei, den Schrecken zu begreifen.

Verrostete und verbogene Eisengegenstände sind dabei, zB. ein langes, griffartiges Ding. Vielleicht ein Fenstergriff – das eine Ende steckt in einem Stück Holzkohle, vielleicht ein Teil von einem verbrannten Fensterrahmen. Zerbrochenes Porzellan, wie es bei meiner Oma im Schrank stehen könnte – allerdings mit Ascheresten. Fliesen mit eingeprägter Aufschrift. Etwas, das gut eine Lederschuhsohle sein könnte. Viel Kohle – im 20. Jahrhundert nutzte man noch mehr massives Holz als heute. Und wir fanden viel geschmolzenes Glas. Die Hitze in den Bränden war so groß, dass Flaschen durch herabfallende Trümmer zusammengedrückt wurden, statt zu zerspringen.

Die überwucherte Stadt, der Schutt, die Treppen ins Nichts, die Kellereingänge und die Fliesen am Boden verbreiten eine unheimliche Stimmung – aber erst diese kleinen Gegenstände, die wir gesehen haben, zeigen, dass der friedliche Alltag noch gar nicht so lange her ist. Fast jeder hat zu Hause Erbstücke wie das gefundene Porzellan. Aschereste, Holzkohle und geschmolzenes Glas verdeutlichen dagegen, wie der Alltag zerstört wurde.

Was am Ende bleibt..

Wir hatten eigentlich vormittags noch gar nicht vor, nach Küstrin zu fahren. Eigentlich hatten wir die Gedenkstätte „Seelower Höhen“, 18 km weiter westlich gelegen, besucht und dort erst von den schweren Kämpfen in Küstrin gehört. Dann entschieden wir, uns Küstrin auch noch anzuschauen. Das war eine sehr gute Entscheidung und ich kann einen Besuch in diesem „Pompeji an der Oder“ nur empfehlen.

Der Streifzug durch die „Altstadt“ Küstrin führte mir den Krieg und dessen Folgen mehr vor Augen als die schlimmsten Fotos von Zerstörungen in Städten wie Berlin oder Dresden – denn vor Ort sieht man den Wahnsinn noch. Das macht es greifbarer, als irgendein Schwarz-Weiß-Foto. Und so fuhren wir anschließend sehr nachdenklich auf der B1 durch das Oderbruch wieder nach Westen – genau wie damals die Russen.

Für die Sowjets war der Krieg nach der Einnahme Küstrins natürlich noch nicht gewonnen. Auf dem Weg nach Berlin mussten sie erst noch die stark befestigten Seelower Höhen am Westrand des Oderbruchs überwinden, und auch die Einnahme von Berlin selbst forderte unter Soldaten und Zivilisten über hunderttausend Opfer.

Die Oder bei Küstrin
Blick von der rekonstruierten Bastion Küstrin nach Süden über die Oder

5 Comments

  1. Wolfi

    Unfassbar interessant.
    Bin vor einer Stunde zwischen Feierabend und Bett zufällig auf diese Seite gestoßen und sehe es schon kommen: es wird eine schlaflose Nacht. Lesen, kucken, hirnen.
    Gruss Wolfi

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